Bei vollen Wartebereichen geht im laufenden Betrieb der Notaufnahme oft der Blick für „den echten“ Notfallpatienten verloren. Ist der Patient, der am lautesten klagt, tatsächlich der Patient, der meine Behandlung zuerst benötigt? Oder sollte meine Aufmerksamkeit eher dem Patienten gelten, der seinen Schmerz unterdrückt und unscheinbar im Wartebereich sitzt? Dies sind Fragen, die sich Ärzte und Pflegekräfte in einer Einrichtung der Notfallversorgung täglich stellen müssen.
Ein kurzer Blick durch die Wartezone reicht meist nicht aus, um eine angemessene Ersteinschätzung vorzunehmen. So kann es sein, dass ein Patient, der seine Hand mit einem Taschentuch bedeckt, einfach nur eine kleine Schnittwunde hat, aber es kann genauso gut sein, dass er einen seiner Finger, abgetrennt von einer Kreissäge, mit ins Krankenhaus gebracht hat. In diesem Fall könnte das offenkundige Problem sogar noch schnell visuell erfasst werden. Bei internistischen Notfällen aber, etwa einem Herzinfarkt, ist der Grund, weshalb der Patient ins Krankenhaus gekommen ist, auf den ersten Blick deutlich schwieriger zu erkennen.
Im Jahr 2007 verstarb eine Patientin in der Wartezone eines Krankenhauses in Los Angeles [1]. Mehr als 45 Minuten hatte sie sich in der Wartezone vor Schmerzen gekrümmt. Klinikpersonal hatte mehrfach die Wartezone durchquert, aber keine Notiz von der Patientin genommen– bis die Frau im Wartebereich zusammenbrach [2].
Hier stellt sich fast zwangsläufig die Frage, ob die Patientin durch eine systematische Ersteinschätzung direkt beim Eintreffen in der Notaufnahme hätte gerettet werden können oder ob ihre tödlich verlaufende Erkrankung auch dann in ihrer Dringlichkeit nicht aufgefallen wäre.
Obwohl einiges dafür spricht, blicken viele Mitarbeiter von Notaufnahmen skeptisch auf ein systematisches Ersteinschätzungssystem. Aussagen wie „Wir haben bis jetzt kein Ersteinschätzungssystem gehabt und wir sind trotzdem sehr gut zurechtgekommen“ oder „Ich verlasse mich lieber auf meine Erfahrung und mein Bauchgefühl als auf einfache Checklisten“ hört man immer wieder.
Mitarbeiter werten die Implementierung eines Ersteinschätzungssystems oft als tiefes Misstrauen gegen sie selbst, als Zweifel an ihren eigenen Kompetenzen. Der Grund dafür ist häufig, dass die Mitarbeiter gar nicht genau wissen, worum es sich bei einem Ersteinschätzungssystem überhaupt handelt und was für einen Nutzen man aus einem solchen Instrument ziehen kann.
Was versteht man unter dem Begriff Ersteinschätzung?
Die „Ersteinschätzung“ lässt sich in vielerlei Hinsicht mit der Triage in der Notfallrettung vergleichen. Der Pschyrembel definiert den Begriff wie folgt: „Die Triage: (Medizin) Einteilung der Verletzten (bei einer Katastrophe) nach der Schwere der Verletzungen“ [3]. Anhand der Triage wird die Behandlungsdringlichkeit einschließlich einer zeitlichen Vorgabe festgelegt.
Allerdings beinhaltet der Begriff „Triage“ per Definition auch den Behandlungsausschluss von „hoffnungslos verletzten oder erkrankten Personen“. Da ein solcher im Krankenhaus nicht vorgesehen ist und, wenn überhaupt, nur von einem Arzt bestimmt werden darf, hat sich in Deutschland für den Prozess der innerklinischen Dringlichkeitsfestlegung der Begriff Ersteinschätzung durchgesetzt [4, 5].
Ersteinschätzungen werden in Deutschland in erster Linie durch Pflegekräfte durchgeführt. Aufgrund der Krankenhausstruktur und nicht zuletzt auch wegen des Mangels an ärztlichem Personal kann in der Notaufnahme nicht zu jedem Zeitpunkt ein Arzt anwesend sein [6, 7]. Eine zeitgerechte Erstsichtung der eintreffenden Patienten durch einen Arzt ist daher meist nicht möglich.
Als kompetenter Partner der Ärzteschaft steht für diese Aufgabe die Pflege zur Verfügung. Die notwendige fachliche Kompetenz sowie eine gute Fähigkeit, Patienten zu beobachten und einzuschätzen, wird dieser Berufsgruppe qua Ausbildung und gewonnener Berufserfahrung zugeschrieben.
Die Tatsache, dass die Pflege die Ersteinschätzung vornimmt, bedeutet jedoch nicht, dass der ärztliche Dienst nichts mit diesem Prozess zu tun hat. Eine Ersteinschätzung funktioniert erst dann, wenn alle beteiligten Berufsgruppen zusammenarbeiten.
Selbst die beste Ersteinschätzung hat nicht den gewünschten Effekt, wenn der Arzt die Behandlungsdringlichkeit mit der dazu hinterlegten Zeitvorgabe nicht beachtet. Die Mitarbeiter einer Notaufnahme müssen sich als interdisziplinäres Team sehen, welches zusammen das Ziel hat, eine optimale und vor allem sichere Patientenversorgung zu gewährleisten.
Ersteinschätzungssysteme
Weltweit existiert eine große Anzahl verschiedenster Ersteinschätzungssysteme. Zum Teil gibt es einheitliche Verfahren, die in mehreren Einrichtungen genutzt werden, aber zum Teil auch individuell entwickelte Instrumente, die einzelne Träger bzw. Krankenhäuser verwenden.
Das American College of Emergency Physicians (ACEP) und die Emergency Nurses Association (ENA) empfehlen die Verwendung eines validen, fünfstufigen Triage-Systems [6]. Weltweit stehen fünf fünfstufige Systeme zur Verfügung: die Australasian Triage Scale (ATS), die Canadian Triage and Acuity Scale (CTAS), das Manchester Triage System (MTS), der Cape Triage Score (CTS) und der Emergency Severity Index (ESI) [7, 8].
Für den deutschsprachigen Raum kann man die Ersteinschätzungssysteme ATS, CTAS und CTS vernachlässigen [9]. Diese werden deswegen in unseren Breiten nicht angewendet, weil sie eine Diagnosestellung beinhalten, die in Deutschland der Berufsgruppe der Ärzte vorbehalten ist.
In Deutschland ist das Manchester Triage System (MTS) das Ersteinschätzungssystem mit den meisten Anwendern [8]. Mit der Übersetzung ins Deutsche im Jahr 2004 hielt das MTS Einzug in die deutschen Notaufnahmen. Mittlerweile wird das System in mehr als 180 Krankenhäusern angewendet [9]. Unter allen Triagesystemen zählt das MTS zu den am besten validierten und in klinischen Studien am meisten erforschten Systemen [7].
Das in Deutschland am zweithäufigsten verwendete Ersteinschätzungssystem [10] ist der Emergency Severity Index (ESI), der, wie das MTS, in vierter Version in der deutschen Sprache erhältlich ist [1].
Ersteinschätzung und Patientensicherheit
Eine systematische Ersteinschätzung stellt Mittel zur Verfügung, um unmittelbar patientengefährdende Notfallsituationen frühzeitig und vor allem sicher zu erkennen. Eine Fehleinstufung könnte unmittelbar zu einer Gefährdung des betroffenen Patienten führen. Um die Sicherheit und Zuverlässigkeit eines Ersteinschätzungssystems zu prüfen, muss seine Validität und Reliabilität betrachtet werden.
Eine Vielzahl von Studien hat sich bereits dieser Thematik angenommen [7, 11, 12, 13, 14, 15]. Aus ihnen geht u.a. hervor, dass Fehleinschätzungen von Patienten innerhalb eines systematischen Ersteinschätzungssystems in den meisten Fällen mit einer zu „hohen“ Einstufung einhergingen und nicht mit einer zu „niedrigen“. Mit Blick auf die Patientensicherheit bedeutet dies, dass Patienten bei Fehleinstufung eher „zu früh“ als „zu spät“ behandelt wurden. Des Weiteren attestierten die Studienergebnisse den Ersteinschätzungssystemen aufgrund ihrer einheitlichen Fragestellungen und Struktur eine gute Reliabilität. Beides spricht durchaus für die Systeme. Nichtsdestoweniger sind Fehleinschätzungen, die zu einer zu geringen Einstufung führen, nie vollkommen ausgeschlossen. Doch der Nutzen von systematischen Ersteinschätzungssystemen überwiegt in der Regel die Risiken. So können solche Systeme beispielsweise Krankenhäuser der Notfallversorgung dabei unterstützen, sich an rechtliche Vorgaben zu halten.
Rechtliche Grundlagen
Nach §2 des Landeskrankenhausgesetzes in Nordrhein-Westfalen ist ein Krankenhaus verpflichtet, Notfallpatienten vorrangig zu behandeln [16]. Dieser Pflicht können Krankenhäuser aber nur dann nachkommen, wenn der Zustand eines Patienten schon bei seinem Eintreffen korrekt eingeschätzt und so die Dringlichkeit der Behandlung festgelegt– und dokumentiert– wird [17]. Systematische, dokumentierbare Verfahren sind hervorragend geeignet, Notfallteams die Erfüllung ihrer Pflichten zu erleichtern.
Das Gesetz zur Neuregelung des Krankenhausrechts von Berlin (2011) besagt u.a. (Auszug §27, Abs.3, Satz3): „Krankenhäuser, die nach dem Krankenhausplan an der Notfallversorgung teilnehmen, müssen die im Krankenhausplan festgelegten Voraussetzungen erfüllen. Sie sind insbesondere verpflichtet, … bei Notfallpatientinnen und -patienten eine Ersteinschätzung und -versorgung durchzuführen …“ [18].
Neben der Erfüllung rechtlicher Verpflichtungen lässt sich aus der Verwendung eines systematischen Ersteinschätzungssystems noch ein entscheidender Nutzen ziehen: Kommt ein Patient im Rahmen der Notfallversorgung zu Schaden, weil er zu spät einer Behandlung zugeführt wurde, kann bei Vorhandensein eines evidenzbasierten und evaluierten Ersteinschätzungssystems, wie es häufig in Krankenhäusern verwendet wird, der oder die Behandelnde im Nachgang anhand der schriftlichen Dokumentation wasserdicht nachweisen, dass er oder sie nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt hat. Erfolgte die Ersteinschätzung des Patienten indes nach „Bauchgefühl“, kann der Hergang im Falle eines Rechtsstreits nicht nachgewiesen oder handfest begründet werden.
Auswertungen von Schadenstatistiken, wie in Abbildung 1, ergeben, dass über 16% der in der Notaufnahme entstandenen Schadensfälle auf eine nicht oder zu spät eingeleitete Therapie zurückzuführen sind– ein Faktum, das die Relevanz der Thematik „Ersteinschätzung“ eindrücklich herausstellt.
Prozessoptimierung
Einheitliche Ersteinschätzungssysteme können eine große Hilfe zur Prozessoptimierung von Handlungsabläufen im Krankenhaus sein. Eine Ersteinschätzung nach System dauert in der Regel nicht mehr als drei Minuten, kann jedoch eine enorme Zeitersparnis im weiteren Behandlungsverlauf bewirken. Zudem lassen sich Ressourcen dank genauer Übersicht von Behandlungsdringlichkeiten und Zeitvorgaben optimal einteilen. Patienten, die eine systematische Ersteinschätzung durchlaufen haben, bringen zum Behandlungskontakt bereits eine Vielzahl von Daten und Werten mit, die der Arzt ansonsten erst ad hoc erheben würde. So kann der Behandelnde ohne Verzögerung auf die Vitalzeichen blicken und gleichzeitig Hintergrundinformationen zu der Erkrankung/Verletzung einsehen.
Dem Ergebnis der Ersteinschätzung kann darüber hinaus eine große Anzahl an SOPs (Standard Operating Procedures) „angehängt“ werden, z.B. bei Patienten mit Brustschmerz oder unklaren Bauchschmerzen eine Blutabnahme zur Bestimmung der Entzündungs- und Troponinwerte oder weitere Diagnoseverfahren, etwa ein EKG.
Hinzu kommt, dass der Patient sich schon beim ersten Kontakt mit all seinen Ängsten, Sorgen und Nöten wahrgenommen fühlt und zudem einen Einblick in den Behandlungsprozess bekommt, was zumeist zu einem besseren Verständnis für aufkommende Wartezeiten führt. Mit anderen Worten: Dem Patienten wird transparent gemacht, wieso die Behandlung läuft, wie sie läuft. Eine Steigerung der Patientenzufriedenheit und eine bessere Compliance gegenüber der Behandlung sind in der Regel die Folge.
Abb. 1: Entnommen aus der Ecclesia Schadensdatenbank
Fazit
Gegenüber der systematischen Ersteinschätzung, welche die derzeitige rechtliche Situation bereits vorgibt, bieten die genannten Systeme eine Reihe zusätzlicher Vorteile. Die rechtliche Absicherung des Notaufnahmepersonals hat gerade in der heutigen Zeit, in der die Fallzahlen stetig steigen und immer mehr Patienten multimorbid sind, eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. Dokumentationsfehler oder Vorwürfe, dass Behandlungen nach nicht nachvollziehbaren Maßstäben früher oder später stattgefunden haben, werden im Schadensfall schwer weg zu argumentieren sein.
Der zeitliche Vorteil, der sich durch die Ersteinschätzung ergeben kann, weil behandlungsrelevante Werte (beispielsweise Vitalzeichen) bereits im Vorfeld erfasst werden sowie eine Transparenz der Behandlungsabläufe helfen, eine Behandlung schneller abzuschließen und somit die Patientenzufriedenheit zu steigern.
Mitarbeiter in der Notaufnahme sollten etwaige Ängste und ihre Abneigung gegen die Systeme über Bord werfen und sich bewusst machen, dass ein systematisches Ersteinschätzungssystem der Absicherung und Optimierung ihrer Arbeit dient.